Fliegende Räuber können sich keine Misserfolge erlauben
Greife oder Raubvögel - so ist die weitverbreitete Meinung bei uns - schlagen immer nur die kranken oder schwachen Tiere aus einer Gruppe - in der Schule lernten wir in diesem Zusammenhang das Wort von der "Gesundheitspolizei in der Natur". Dies ist aber ein Vorurteil, sympathisch zwar, aber deshalb nicht weniger falsch.
Denn die Regel gilt allenfalls dort, wo die Vögel noch in unberührter Umgebung leben. Greift der Mensch ein, so ändern sich die jahrtausendealten Räuber-Beute-Systeme. Der Habicht erbeutet keineswegs nur schwache und alte Tiere, wie von vielen Naturschützern mit guter Absicht und schlechter Sachkenntnis gern behauptet wird. Ihm fällt zum Opfer, was sich immer leicht zu erjagen gibt. Unter natürlichen Bedingungen sind es eben die Alten und Schwachen, in unserer produktionsgerechten Landwirtschaft aber auch `mal kerngesunde Rebhühner - sie sitzen quasi auf dem Präsentierteller. Auch andere Fleischfresser fangen und töten bisweilen, ohne wirklich Hunger zu haben. Eulen zum Beispiel werden bei einem überreichlichen Nahrungsangebot "krütsch" ( wählerisch ) und fressen nur noch die bestenTeile. Das Blutbad des Marders im nächtlichen Hühnerstall ist schließlich schon sprichwörtlich geworden.
Als der Katzenforscher Leyhausen einen satten Kater mit einem wahren Überangebot von Mäusen konfrontierte, tötete er noch ganze 17 Mäuse, bis er die 18. Maus am Leben ließ - wer als Katzenbesitzer im Brustton der Überzeugung behauptet, seine Katze jage keine Singvögel, sie sei schließlich gut gefüttert, der kennt die Regungen einer Katzenseele zu wenig ! Ein derart verschwenderisches Verhalten, das nach menschlichem Moralmaßstab sehr oft als sinnloses Töten oder sogar als Blutrausch verurtelt wird, scheint nicht so sehr in unsere Vorstellungen von Natur zu passen. Dennoch ist der "überbordende" Jagdtrieb der Greifvögel kein Konstruktionsfehler der Evolution, sondern lebensnotwendig und sinnvoll : In der Regel haben es auf Prädation ausgerichtete Vögel es mit schnellen, wendigen und oft auch wehrhaften Beutetieren zu tun; entsprechend bescheiden ist die Erfolgsquote ihrer Jagden.
Ein Fischadler macht bei 100 Jagdflügen nur 20-mal Beute, ein Sperber elfmal und ein Habicht hat bei 100 seiner Überraschungsangriffe gerade fünfmal Erfolg - Aussagen eines befreundeten Jägers. Der Antrieb zu fangen und zu töten musste sich durch die Evolution stark entwickeln, um auch nach vielen Misserfolgen noch zuverlässig zu arbeiten. Verließe einem Habicht nach fünf verpatzten Überfällen auf eine Taube die Lust weiter zu jagen, hätte er schlechte Überlebenschancen. Wenn der Räuber nach seiner bevorzugten Beute sucht, hat er offenbar das Erscheinungsbild seines Opfers wie ein Abziehbild vor dem inneren Auge. Er hat das Aussehen seiner Beute quasi auswendig gelernt und entdeckt sie deshalb schneller als andere, für ihn uninteressante Tiere.
Räuber wie unsere Greife werden im Verlaufe ihres Lebens und mit wachsender Übung immer geschickter im Umgang mit einer Beute, und sie bringen sich dadurch - wenn sie es mit wehrhaften Tieren zu tun haben - weniger selbst in Gefahr.
Foto( Heinrich Scheel, Scharstorf ) : Fischadler mit doppeltem Jagdglück
Holger Jürgensen